Migration, Hassreden und Medienethik

Migration, Hassreden und Medienethik

Migration ist kein Verbrechen. Sie ist eine Praxis, die so alt ist wie die menschliche Zivilisation und ein in vielen internationalen Verträgen anerkanntes Menschenrecht. Seit 2013 haben die europäischen Medien intensiv über die täglichen Ankünfte an den Küsten des Mittelmeers berichtet, und der Ton vieler Berichte hat die Vorstellung von Migration als Notstandsproblem und potenzielle Bedrohung für die Sicherheit der europäischen Bürger überhöht.

Warum ist das so wichtig? Zwei Tatsachen können nicht ignoriert werden: Die Migration in die Industrieländer wird noch viele Jahre lang ein fester Bestandteil der Gesellschaften bleiben, und die Medien spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der öffentlichen Meinung und der Politik in diesen Gesellschaften. Für ein nachhaltiges friedliches Zusammenleben in einem multikulturellen Umfeld ist es von entscheidender Bedeutung, die Aufmerksamkeit auf beide Themen zu lenken.

Nach dem jüngsten Bericht der Vereinten Nationen über das Weltbevölkerungswachstum und die Migrationsströme wird sich zwischen 2015 und 2050 die Hälfte des weltweiten Bevölkerungswachstums auf neun Länder konzentrieren, vor allem in Afrika und Asien. Im gleichen Zeitraum werden die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, das Vereinigte Königreich, Australien, Deutschland, die Russische Föderation und Italien die größten Nettoempfänger internationaler Migranten (mehr als 100.000 jährlich) sein. Der Wanderungssaldo wird den Prognosen zufolge 82 Prozent des Bevölkerungswachstums in den Ländern mit hohem Einkommen ausmachen.

Die Medien können eine entscheidende Rolle bei der Beeinflussung der öffentlichen Wahrnehmung von Migranten und/oder bei der Erleichterung ihrer Integration spielen. Sie können eine Schutzmauer gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sein, aber auch ein Katalysator für instinktive und emotionale feindselige Reaktionen gegenüber Migranten.

In Europa ist dies besonders deutlich geworden. Wie in einem Bericht des EU-Projekts Bricks against Hate Speech festgestellt wird, hat die Verwendung von Hassreden, in denen häufig Einwanderer und Minderheiten für die Schwierigkeiten in ihren eigenen Ländern verantwortlich gemacht werden, in den meisten Ländern erheblich zugenommen. Der Bericht hebt hervor, dass selbst harmlose redaktionelle Stellungnahmen – wenn sie einzeln gelesen werden – einen kontinuierlichen Strom von Hassreden auslösen können, der nicht aufhört. Kleine Nachrichten, Geschichten, Reportagen oder sogar einzelne Worte können das Bild von Migranten beschädigen und Hindernisse für das Verständnis des gesamten Phänomens schaffen. Und wir fangen gerade erst an zu verstehen, wie massive Social-Media-Plattformen solche Äußerungen in Europa und Nordamerika dramatisch beschleunigen können.

Einem aktuellen italienischen Bericht zufolge waren die drei wichtigsten Migrationsthemen, die 2016 die Schlagzeilen der wichtigsten Zeitungen füllten, die Auswirkungen auf die europäischen Länder, die eine große Zahl von Migranten aufnehmen, die Schilderung der Seepassage und soziokulturelle Themen wie Rassen- und Fremdenfeindlichkeit – ein Thema, das im Vergleich zu den Daten des Jahres 2015 aus demselben Bericht um das Dreifache zunahm.

Im Mai 2016 setzte das italienische Parlament die Jo-Cox-Kommission zu Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Hass ein, um das Phänomen der Hassreden in Italien zu untersuchen. Der Abschlussbericht zeigt die Existenz einer Hasspyramide (siehe unten), die von scheinbar “nicht schädlichen” Einstellungen wie Stereotypen, falschen oder irreführenden Darstellungen, Beleidigungen, normaler und banaler feindseliger Sprache bis zu Diskriminierung, Hasssprache und Hassverbrechen reicht.

Die Darstellung von Migranten als eine Masse von Menschen, die aus ihren Ländern fliehen – ohne Unterscheidung zwischen Flüchtlingen, Asylbewerbern, Wirtschaftsmigranten oder Menschen, die einfach nur vor harten Bedingungen fliehen – treibt die kollektive Vorstellungskraft nur immer weiter in Richtung Entmenschlichung. Migranten werden in Horden von Terroristen, Kriminellen und Opfern verwandelt, die bereit sind, die europäische Sicherheit zu bedrohen. Infolgedessen könnte selbst das extremste Vorgehen gegen sie letztlich als “legitime Verteidigung” toleriert und jede Diskriminierung akzeptiert, wenn nicht gar gerechtfertigt werden.

Hass, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen, sensibel mit der Sprache umzugehen, die in der Berichterstattung verwendet wird, und die Vorstellung einer permanenten Notlage in Frage zu stellen, indem die Geschichten der einzelnen Migranten, insbesondere der Kinder, vermenschlicht werden, ist ein Ziel, das die UNICEF Innocenti-Studie Forced Displacement and Child Responsive Communication” verfolgen will. Die Studie wird untersuchen, wie die Medien die öffentliche Meinung und die Politik Italiens gegenüber Tausenden von Migrantenkindern, die in den letzten zwei Jahren in Italien angekommen sind, beeinflusst haben. Die Studie geht der Frage nach, warum die aktuelle Rolle der Medien in Italien eine kinderrechtssensible Berichterstattung fast völlig vermissen lässt.

Wie kann der Journalismus den scheinbar unbedachten Abstieg in den Hurrapatriotismus in Bezug auf den Strom der “unglücklichen Anderen”, die an fremden Ufern ankommen, schneller überwinden? Wie können internationale Normen und ethische Standards, insbesondere in Bezug auf Kinderrechte, in einer der wichtigsten Nachrichten unserer Zeit berücksichtigt werden? Die Entwicklung einer Ethik der Verantwortung in den Medien könnte ein guter Anfang sein.